Mach mich wieder heile
Veröffentlicht in: 02 | HOLY
TEXTE
Peter Oellerich
10/18/20242 min read
Weinend und schreiend in die Küche rennen, weil die Bordsteinkante vorne auf der Straße ein zu großes Hindernis für mich und meine Inliner war, und auf Mamas Schoß mit Mamas Stimme das Lied “Heile, Heile Segen” vorgesungen bekommen. “Drei Tage Regen” dringen langsam betäubend durch meine Schluchzer hindurch. “Drei Tage Sonnenschein, bald wird’s wieder besser sein, Drei Tage Schnee und schon tut's nicht mehr weh”, die Wunderheilung scheint vollzogen. Ungefähr so stelle ich mir die Wirkung dieses Liedes in meiner Erinnerung vor. Im Erwachsenenalter bekomme ich dieses Lied nicht mehr vorgesungen, stattdessen höre ich ab und zu “Make me whole again” von Atomic Kitten aus dem Radio, ein vergleichbarer Effekt bleibt jedoch meistens aus.
Tatsächlich sind die Wörter “heilig” und “heile” etymologisch verwandt, genau wie “holy” und “whole” im Englischen. Irgendwo in den Wirren einer “Proto-Germanischen” Sprache haben sie wohl mal etwas in die Richtung von “ganz”, “ganzheitlich", “complete”, “uninjured”, “healthy” bedeutet, sagt Wikipedia.
Interessant, dass trotzdem viele Dinge, die bspw. in der katholischen Kirche als heilig gelten, ganz und gar nicht heile sind, wie z.B. Menschen, die tot sind. Vielleicht offenbart erst das nicht Heile- oder Ganz-Sein einer Sache, wie wichtig sie im heilen Zustand noch war. Erst in der Abwesenheit merkt man, dass etwas fehlt, und dann kann man auch eine überhöhte Bedeutung auf die Dinge legen. Als ich 2015 mein damaliges Handy, ein HTC one mini, an die ätzenden Wogen einer mit Urin gefüllten Kloschüssel verlor, brach eine Welt für mich zusammen.
In der Erinnerung an dieses Ereignis muss ich mir eingestehen, dass, damals und heute noch, mein Handy ziemlich nah an einen Gegenstand herankommt, der mir in meinem Leben wirklich heilig ist, auch wenn ich dieser Tatsache mit Unmut entgegenblicke. Als ständiger Begleiter, Ratgeber, zieht es mich in seinen Bann, verschluckt Stunden, verlangt meine ständige Aufmerksamkeit und lässt mich belanglose Fotos schießen. Es verknüpft mich mit anderen, weist mir den Weg und ich brauche es, um ganz, complete zu sein. Ich will es als Schutzengel, ich will, dass es mich heile macht, viel mehr noch als Drei Tage Regen, doch die Meldung, dass ich meine tägliche Bildschirmzeit überschritten habe, drücke ich weg.
Lieber wären mir dann doch meine Inliner von damals heilig. Und meine Mama hab ich auch schon lange nicht mehr angerufen, mit meinem Handy.
Der Wecker klingelt um 8:30, ich starre auf den Bildschirm im Bett, summe das Lied und wünsche mir, mein HTC one mini wäre wieder ganz.